Ausführliche
Biografie von Project Pitchfork
Teil 1: Die Chemical Brothers
von Thomas "Cliffhanger" Pilgrim
Wer sich bei einer Hochhaussprengung kennenlernt, hat eine Menge zu erzählen.
Wer sich auf einem Konzert der Hamburger Gothic-Rocker Girls Under Glass
kennenlernt, dagegen weniger - aber zumindest kann man bei der Gelegenheit ja
mal eben eine Band gründen. Sagten sich Peter Spilles und Dirk Scheuber, von
denen ersterer schon seit ein paar Jahren selbstaufgenommene Tapes auf dem
Hamburger Kiez verscheuerte, die dann in den betreffenden Clubs auf Heavy
Rotation liefen. Einen Namen hatte das Electro-Baby da noch nicht, aber ohne es
selbst zu wissen, existierten ab da Project Pitchfork - genau, die Project
Pitchfork, deren Heavy Rotation sich in der mittlerweile dreizehnjährigen
Bandgeschichte schnell von Insider-Clubs über gotische Tanztempel bis hin ins
kommerzielle Musikfernsehen entwickeln sollte. Wir schreiben das Jahr 2002, die
jüngsten beiden Alben "Eon:Eon" (1998) und "Daimonion" (2001) schossen nach
Veröffentlichung dank riesiger Fangemeinde und omnipräsenter Videos zu den
Vorabsingles mal eben in die berüchtigten Top Twenty der Media Control-Charts -
und spätestens heute sind Spilles und Scheuber das, was sie selbst
wahrscheinlich am heftigsten von sich weisen würden: Stars, wenn auch mit
spirituellem Background, komischen Frisuren und für diesen Status eigentlich zu
düsterer Musik. Aber von vorn bitte.
Die Tatsache, daß niemand mit einem solchen Aufstieg der Band gerechnet hätte,
als er 1990 den ersten Tonträger der beiden in Händen hielt, kostet zwar drei
Euro ins Phrasenschwein, entspricht aber dennoch der Wahrheit. Project
Pitchforks erste Veröffentlichung war ein Tape, das Medium, das quasi starb, als
die Band geboren wurde, die mit der Mistgabel im Namen Verstand und Bewußtsein
der Hörer aufwühlen wollte. "K.N.K.A." markierte einen weiteren Schritt im
damals grassierenden Abkürzungsfimmel der Electro-Szene, in dem Front Line
Assembly nur FLA hießen und die Buchstaben NIN für den gerade aufkommenden
US-Crossover standen. "K.N.K.A." war jedoch kein tumbes Letternkonstrukt, mit
dem man seine Mixtapes schneller beschriften konnte, sondern bedeutete nicht
weniger als "Killing nature killing animals" - ein wie in Stein gemeißelter
Schlachtruf gegen Konsumwahnsinn, Wegwerfgesellschaft und Umweltzerstörung.
Peter Spilles sang ‚We hate nature, we love our wars ... I think I have to buy
another car', und das so plakativ anklagend und geradeheraus, daß die Ironie
einem entgegensprang wie eine Laborratte, die man nach Jahren aus ihrem Käfig
läßt. ‚Don't disturb, we love our chemicals' hieß es weiter im Refrain des
gleichnamigen Stücks, ein Slogan, dessen Einprägsamkeit so groß war, daß es
einem anschließend über Jahre hinweg als Backprint auf den reißenden Absatz
findenden Band-Shirts begegnete. Project Pitchfork bedeutete technisch rohen,
aber mitreißenden und kämpferischen Electro, der nicht nur in Clubs und
heimischen Tapedecks abging wie Schmidts Katze. Schon nach einem Jahr nahm
Hypnobeat die Band unter Vertrag und veröffentlichte den ersten Longplayer "Dhyani",
eine Zusammenstellung dessen, was zu dieser Zeit technisch und songschreiberisch
machbar war.
Etwa die Hälfte des Albums bestand aus aufgepumpten Versionen von "K.N.K.A."-Stücken,
wobei sich der Titelsong als unkaputtbarer Tanzkracher und das aggressive
Tierversuchsgegner-Lied "Box Of Steel" bei Konzerten als reißerischer Pogo-Hit
erwies. Project Pitchfork gingen schon jetzt als Headliner auf Package-Tour und
stahlen sämtlichen mitgereisten Bands wie The Fair Sex oder yelworC die Show.
Daß letztere als Schützlinge des Tourveranstalters zwei Stunden spielen durften,
während den am Ende auftretenden Project Pitchfork nach circa einer Stunde
aufgrund Anwohnerbeschwerden der Saft abgedreht wurde, war bitter, aber zu
verschmerzen. Man liebte sie einfach, und daran sollte sich nicht viel ändern.
Mit ein paar neuen Songs im Gepäck und technisch verbesserten
Produktionsmöglichkeiten wollten Spilles und Scheuber nicht bis zur
Veröffentlichung des nächsten Albums warten und schoben wenig später die Maxi "Psychic
Torture" nach, die einen Megasprung gegenüber der Soundqualität der bisherigen
Tonträger bedeutete. Absicht oder nicht, keins der darauf vertretenen drei neuen
Stücke "Psychic Torture", "Precious New World" und "Ruins Of Ignorance" schaffte
es auf die nächste Platte, und hätte jemand geahnt, was fanatische Sammler
dereinst für ein Original auf einer Internetplattform namens eBay zahlen würden,
die Sache wäre anders gelaufen. Doch wir waren jung, hatten keine Ahnung,
freuten uns über brandneue Knaller und einen "K.N.K.A"-Remix und warteten aufs
nächste Album.
Das
folgte auf dem Fuße, genauer gesagt 1992. "lam'bras" gab sich weniger aggressiv
und kritisch als der Vorgänger und favorisierte eher Spirituelles - erstmals kam
auch Patricia Nigiani, Spilles' damalige Lebensgefährtin, auf der Platte zu Wort
und sang den entrückten Song "Floating Dolphins", der später noch einmal auf "The
Land Of Harm And Appletrees", einem Album ihres gemeinsamen Projektes Aurora,
auftauchen sollte. (Nach Spilles' Ausstieg machte Patricia solo weiter und
nannte sich fortan Aurora Sutra.) "lam'bras" markiert den Anfang der
Bandentwicklung weg vom harten Electro hin zu mystischen, traumwandlerischen
Musikstrukturen und Texten und wurde eine defensivere und nachdenklichere Platte
als "Dhyani". Erneut war keine Auskopplung erforderlich, um das Stück "Conjure"
zum Hit zu machen, auch wenn mittlerweile die finanziellen Möglichkeiten
derartiges gestattet hätten.
Und eine Singleveröffentlichung war auch beim dritten Album "Entities", das noch
im gleichen Jahr wie "lam'bras" erschien, zuerst nicht geplant. "Entities"
entsprach am ehesten der Vorstellung der Mitglieder von einem konzeptuellen
Werk, das auf eine bloße Aneinanderreihung der Stücke verzichtete und sie mit
instrumentalen Zwischenspielen namens "Mirrors" zu einer Einheit verband. Die
spirituelle Ausrichtung des Albums führte die Stimmung von "lam'bras" weiter.
Eingerahmt wurde "Entities" neben den "Mirrors" von den beiden Songs, die es
schließlich auch in die Diskotheken schafften: Dem fantastischen, harten
Electro-Brecher "Song Of The Winds", der soundtechnische Weite und Bombast mit
schwebenden Synthie-Flächen und rigiden Beats verknüpfte, und dem hymnischen,
langen
"Souls". Beide Stücke thematisierten Wesen und Seele des Menschen auf der einen
und die Urgewalt der Elemente auf der anderen Seite. Die Esoterik hält Einzug
bei Project Pitchfork, und das Publikum meditiert auf "Entities" gerne mit.
Dementsprechend hält sich das langsame "Souls" länger in den Playlisten der DJs,
entwickelt sich zum größten Szene-Hit der Band und wird größer als "K.N.K.A."
und "Conjure" zusammen. Grund genug, den Song noch einmal in einer neu
aufgenommenen Version zu präsentieren - das geschieht aber nicht wie befürchtet
in Form einer 15minütigen Maxi mit uninspiriert dahintergebatschtem Demo- oder
Live-Material - der Song ist Spilles und Scheuber vielmehr eine komplett neue
Veröffentlichung wert, auf der sich mehrere brandneue Stücke, erneut diverse "Mirrors"
und kreativ remixte "Entities"-Songs finden. Als eine der begehrtesten Platten
geht "Souls/ Island" in die Bandgeschichte ein, und die Neufassung des
Titelstücks legt noch eine Schaufel Bombast, Melancholie und brillanten Sound
drauf. Erneut ist Patricia Nigiani mit von der Partie, die die zweite Stimme in
"Souls" übernimmt, womit der Kultstatus des Stückes endgültig gesichert ist.
Die prominente Unterstützung durch Mark Wheeler von Love Like Blood, der zu
diesem Anlaß den "Entities"-Track "The Abeyance" remixt, macht "Souls/ Island"
zu einem weiteren Highlight der Bandgeschichte. Die Tour zum Album war sogar ein
so großer Erfolg, daß sie auf einem Live-Video dokumentiert wurde, der zweiten
VHS-Veröffentlichung von Project Pitchfork nach dem 1992 erschienenen "Va I
Luce". Die Band spielte in vollen Hallen und konnte aus dem Vollen schöpfen.
Ob
Hypnobeat anschließend in Project Pitchfork seine sakrosankten Goldesel sah, ob
die Band für die weiteren Platten Ideen hatte, die dem Label nicht in den Kram
paßten oder ob persönliche, künstlerische oder sonstwelche Differenzen
auftraten, wird auch in diesem Rahmen nicht geklärt werden können - fest steht
nur, daß "Souls/ Island" die letzte Veröffentlichung von Project Pitchfork auf
Hypnobeat war und die Band einige Zeit und ein paar Prozesse später das Label
verließ. Trotz großen Erfolges steuerten Project Pitchfork also 1993 einer eher
ungewissen Zukunft entgegen. Doch man hätte es damals eigentlich schon wissen
müssen - die Band stand zu sehr im Saft, hatte sich in kurzer Zeit eine zu große
Fangemeinde erspielt, als daß es auch unter widrigeren Umständen einfach sang-
und klanglos den Bach heruntergehen würde mit Project Pitchfork. Wie sie es dann
trotz allem erstmals in die ‚richtigen' Charts geschafft haben, was Bill Leeb so
über Peter Spilles' Stimme von sich gibt und was für aufregende Abenteuer die
Band im sagenumwobenen Candyland erwarten, sollte nach der Werbung und etwa in
einem Monat an ebendieser Stelle zu lesen sein - wenn die Band bis dahin keine
einstweilige Verfügung gegen subjektiv gefärbte Geschichtsschreibung eingelegt
haben sollte. Was ein klarer Fall von ‚Vanity overdose' wäre. Die Hoffnung
stirbt zuletzt.
Pitchfork History Teil 2: Wiedergeburten ohne Ende
von Thomas "Cliffhanger" Pilgrim
Wir erinnern uns. Project Pitchfork hatten gerade mal eben die Schwerkraft des
Musikbusineß außer Kraft gesetzt und mit "Entities" ein drittes Album hingelegt,
das kraft Gesetz eigentlich das schwierigste hätte werden sollen - für Peter
Spilles und Dirk Scheuber hingegen wurde es das erfolgreichste, inklusive
Remix-Maxi, Tanzflächenhit mit "Souls" und allem, was dazugehörte. Project
Pitchfork waren nun endgültig Stars und, was selten genug vorkommt, beim
Publikum der Sparten Electro und Gothic/ Dark Wave gleichermaßen beliebt. Die
fast zwangsläufig logische Konsequenz aus dem Erfolg der Band waren als nächstes
- die Charts, ohne daß Project Pitchfork sich dabei in Bezug auf Musik und Image
verbiegen ließen. "Souls/ Island" wurde die letzte Veröffentlichung auf
Hypnobeat, und die (damals noch nicht ganz so) dicke Tante Off Beat, unlängst
mit illustren Newcomern wie dem Steril-Album "Transmission Pervous" ins Rennen
gegangen, stand schon bereit, um das neue Zugpferd in die Arme zu schließen.
Fast
übergangslos erschien noch im Herbst 1993 mit "Carrion" die erste Maxi auf dem
neuen Label, und die Begeisterung des Publikums war ungebrochen: Glatte 15.000
Stück gingen über den Ladentisch, und warum derartige Verkaufszahlen nicht für
einen sensationellen Einstieg in die Top 100 ausreichten, weiß wohl nur der böse
Watz, der vor ein paar Jahren auch schon dafür gesorgt hatte, daß "Caustic Grip"
von Front Line Assembly trotz über 10.000 Einheiten ebenfalls der Charteinstieg
verwehrt blieb. Egal - auch beziehungsweise gerade mit neuem Vertrag in der
Tasche blieben Project Pitchfork das heißeste Ding in der schwarzen Szene. Nicht
wenige freuten sich außer über das neue Stück auch über die auf der Maxi
enthaltene Coverversion des Human League-Oldies "Circus Of Death", 1980 auf der
B-Seite der nicht eben erfolglosen Single "Being Boiled" zu finden und nach dem
seinerzeit die Clubs rockenden "Dhyani"-Remake des Zager & Evans-Evergreens "In
The Year 2525" die zweite Coverversion, die Spilles und Scheuber jemals
aufnahmen. (Mir war doch gleich so, als hätte ich im ersten Teil was vergessen,
ich.)
Ab hier begannen die Maschinerien des Busineß langsam auch für Project Pitchfork
zu greifen. Der Vorabsingle, die den Fans das Maul wäßrig machen sollte, folgte
das langerwartete Album "IO" - so langerwartet, daß nun auch auf breiter Ebene
kommerziell alle Dämme brachen: Das Album schoß auf Platz 56 in die Media
Control-Charts. Die livehaftigen Abräumerqualitäten dokumentierte erneut ein
Video, "Glowing Like IO", auf der sich mit der zweiten Auskopplung "Renascence"
auch der erste ‚richtige' Videoclip von Project Pitchfork befand. Da dieser
jedoch erstens qualitativ eher im abenteuerlichen Bereich anzusiedeln war und
zweitens das Fernsehen 1994 einer entsprechenden Plattform entbehrte (Tele 5 war
längst abgesägt und Viva Zwei noch ein Immer-Phil-Collins-Sender), mußten
zumindest einige Remixe her, um die zweite "IO"-Single zu promoten - die
Mischkünste von Deinem Lakai Ernst Horn und sogar Bill Leeb kamen da genau
richtig. Etwa ein Jahr später sollte mit "Hard Wired" das erste Front Line
Assembly-Album auf Off Beat erscheinen, und Leeb zeigte sich in einigen
Interviews nicht eben angetan von Peter Spilles' ‚merkwürdiger Stimme' - über
Geschmack läßt sich aber nun mal nicht streiten, und auch Auftragsarbeiten
wollen erledigt werden. Der peitschende Body-Charakter von "Renascence" und die
spirituelle Wiedergeburtsthematik des Stücks sorgten für den nächsten großen
Hit, wobei eine gewisse Ironie darin lag, daß die nächste Wiedergeburt bereits
auf der Matte stand. Ob Spilles und Scheuber nach dem überwältigenden Erfolg von
"IO" zumindest vorübergehend den drohend schmatzenden Mühlen des Musikbusineß
entkommen oder einfach Herr im eigenen Haus sein wollten, bleibe dahingestellt,
doch nach nur einem Album und zwei Maxis im bewährt triumphalen Electro-Stil mit
esoterischer Grundierung kehrten Project Pitchfork 1995 auch ihrem zweiten Label
den Rücken. Und das nicht etwa, weil ein fetter Major-Vertrag im Briefkasten
lag, sondern vielmehr, um etwas Eigenes auf die Beine zu stellen. Indes endet
nicht nur die Zusammenarbeit der Band mit Off Beat, sondern auch die mit
Patricia Nigiani, deren Stimme noch vielen Stücken auf "IO" einen zusätzlichen
mystischen Charakter verliehen hatte. Aurora, die gemeinsame Band mit Peter
Spilles, wird auf Eis gelegt, wobei 1994 noch "The Dimension Gate" unter dem
Namen Aurora Sutra erscheint, den Patricia als Soloprojekt weiterführte. Noch
bevor die Aufnahmen zum nächsten Project Pitchfork-Album begannen,
veröffentlichte Peter Spilles ein Album mit dem späteren Bandmitglied Jürgen
Jansen, und in Zusammenarbeit mit großen Namen des Gothic/ Dark Wave wie Yorck
Eysel von Love Like Blood und Constantin Warter von Calva Y Nada erschien 1995
unter dem Namen REC ein selbstbetiteltes Supergroup-Album, bevor der nächste
große Schritt in der Geschichte von Project Pitchfork anstand: Das eigene Label.
Candyland Entertainment hieß das neue Baby der Band, das Project Pitchfork von
nun an künstlerische und geschäftliche Freiheit garantieren sollte, und das
nicht nur in bezug auf eigene Veröffentlichungen, so daß auf Candyland auch
Platten stilistisch ähnlich gelagerter Gruppen wie Deep Red oder Philtron
erschienen. Mit der künstlerischen Freiheit war das dann allerdings so eine
Sache: Bereits die erste Candyland-Veröffentlichung der Band, die Mini-CD "Corps
D'Amour", verschreckte einen Großteil der Fans mit überraschender
Gitarrenlastigkeit, die Project Pitchfork-Anhänger bisher so nicht auf der
Rechnung hatten. Die inhaltliche Seite der EP, die statt im esoterischen eher im
sexuellen Bereich zu verorten war, rief schnell böse Zungen auf den Plan, die
mutmaßten, hier habe mal wieder jemand Fickmusik machen wollen, ohne dabei an
die Musik zu denken. Kein Griff ins Klo, aber eine Reaktion, die gewisse Grenzen
in der Toleranz der zuvor eroberten Hörerschaft aufzeigte. Peter Spilles war's
recht, zumal permanentes Wiederholen etablierter Schemata nicht zu den
Lieblingsbeschäftigungen der Band gehörte und gehört - ein Problem, das Project
Pitchfork vorausgeahnt hatten und das wohl der Beschaffenheit eines Publikums
zuzuschreiben war, das dazu neigt, immer eher den Stillstand als den Fortschritt
zu honorieren.
Das nächste, exakt in die entgegengesetzte Richtung tendierende Problem hatte
dagegen niemand voraussehen können, nicht einmal die Band selbst: Ein Leserbrief
an ein nicht eben kleines Szene-Magazin (das sich natürlich nicht entblödete,
diesen abzudrucken), titulierte Peter Spilles und Dirk Scheuber in einem Anfall
schwer überzogener Götzenverehrung als Götter - schon ein Schlag mit der
Ironiekeule für eine Band, die sich textlich und inhaltlich stets bemüht hatte,
gedankliche Selbständigkeit, Eigenverantwortung und kritischen Umgang mit
religiösen Institutionen zu propagieren. Kopfschüttelnd trollten sich Project
Pitchfork ins Studio, um das nächste Album einzuspielen, halb in der Hoffnung,
es möge sich hinterher nicht allzuviel Göttliches darauf befinden.
War "IO" mit Vorabsingle, Videoclip und spektakulösen Remixen der bisherige
Gipfel der - wenn man es überhaupt so nennen kann - Kommerzialisierung von
Project Pitchfork gewesen, markierte der fünfte Longplayer "Alpha Omega" als
erstes auch in Label-Eigenregie produziertes Album zumindest, was den
Veröffentlichungsplan anging, eine neue Herangehensweise. Keins der sechs Stücke
von "Corps D'Amour" schaffte es auf die Platte, und die Hits wurden nicht durch
speziell ausgekoppelte Singles (die es nämlich nicht gab), sondern wieder durch
die Popularität auf den Tanzflächen der Clubs bestimmt. Mit "Requiem" war ein
Testsieger schnell ausgemacht, doch auch der Rest von "Alpha Omega" überzeugte
durch weiterentwickelten Feinschliff an Songwriting und Produktion. Auf einmal
waren auch die noch von "Entities" bekannten Mirrors wieder da (wenn sie auch
diesmal nicht so hießen), verbanden sämtliche Stücke durch Weite suggerierende
Naturgeräusche und machten das Album so zu einer Einheit, aus der sich kaum ein
Song herauslösen ließ. Am ehesten funktionierte das mit eben "Requiem" oder
"Endzeit", einem erstmals deutschsprachigen, wenig optimistischen
Zivilisations-Abgesang in bester "K.N.K.A."-Tradition - doch "Alpha Omega" blieb
eine Einheit, und die setzte trotz wenig kommerzieller Kniffe auch wunschgemäß
so viele Einheiten ab, daß das Album bis auf Platz 45 in die Charts ging, noch
bevor die Maxi "CH'I" mit diversen Remixen von Albumtracks und den zwei neuen
Stücken "The Liar" und "Lengé" in die Läden kam.
Und je erfolgreicher Project Pitchfork wurden, desto länger und aufwendiger
waren auch die Tourneen, von denen die Band zu "Alpha Omega" die bisher größte
absolvierte, die sie auf 24 Konzerten auch neunmal ins Ausland führte. Natürlich
wurde auch dieses Spektakel erneut auf Video festgehalten, und nicht wenige der
begeisterten Besucher machten sich auf dem Nachhauseweg einen Knoten ins Ohr, um
ja nicht die ebenfalls vielversprechende Vorgruppe zu vergessen. Wie hießen die
noch gleich - ach ja richtig, Rammstein.
Nichtsdestotrotz waren die Tage von Project Pitchfork as we know it zu dieser
Zeit bereits gezählt - wie aus dem stilistisch archetypischen Electro-Duo bald
eine ‚richtige' Band werden sollte, wer beim Deal zwischen Band und Major-Label
oben liegt und welches honorige Magazin den Fans ermöglichte, bei der
Covergestaltung mitzuwirken (hust, hust), lest ihr in circa vier Wochen, wenn an
dieser Stelle erneut die goldene Mistgabel vergeben wird.
Pitchfork History Teil 3: Chakren und Charts
von Thomas "Cliffhanger" Pilgrim
Wißt ihr noch? Project Pitchfork weilen jetzt bereits sechs Jahre unter uns, und
so sehr kann sich eine einzige Band gar nicht dem Musikgeschäft verweigern, als
daß der stetig wachsende Erfolg - immerhin mit "IO" und "Alpha Omega" zwei Alben
in den Top 50 der Media Control-Charts - nicht auch latent kommerzielle
Auswüchse hätte. In diesem Fall handelt es sich um die Best of-CD "The Early
Years", die titelgemäß Stücke aus den Jahren 1989 bis 1993 präsentiert und den
leicht schalen Eindruck erweckt, hier wolle lediglich Off Beat noch einmal die
schnelle Mark mit der Ex-Labelband machen. Gleichzeitig wird mit der
Veröffentlichung von "The Early Years" jedoch der amerikanische Markt angepeilt,
wo Project Pitchfork zwei Jahre später mit Front 242 auf Tour gehen sollten.
Doch auch der hiesige Fan braucht wie üblich nicht lange zu darben: Im Herbst
1996 steht mit der Maxi "En Garde!" bereits der Vorbote zum sechsten regulären
Album auf der Matte, deren drei neue Stücke es allerdings nicht darauf schaffen
sollten. Fortgeschrittene Kommerzialität oder Mißtrauen gegenüber dem eigenen
Material? Weder noch - es geht Project Pitchfork auf dem folgenden Longplayer um
mehr, nämlich ums Konzept. Und in das wollten laut Peter Spilles die Songs von
"En Garde!" einfach nicht passen, und überhaupt: Wer hat gesagt, daß alle Maxis
immer unbedingt mit aufs Album müssen? Project Pitchfork bestimmt nicht, und so
erschien 1997 eine wirklich komplett neue, konzeptuell behaftete Platte.
"Chakra: Red!" bediente sich eines spirituellen Überbaus und beschäftigt sich,
wie der Name schon sagt, mit den Chakren, den Energiezentren des menschlichen
Körpers - ein Thema, das auch Patricia Nigiani bei Aurora Sutra gerne aufgriff.
Jedes Stück wurde nach Fertigstellung den Hauptchakren Blau, Grün und Rot
zugewiesen, wodurch das Album vom Konzept her und inhaltlich aufgeteilt wurde.
Und musikalisch hatte sich wieder einiges getan: Auf zwei Stücken wirkte
Candyland-Studiobesitzer Jürgen Jansen als Co-Autor mit, und das ganze Album
deckte eine breitere Palette der Mixtur aus elektronischer und waviger Musik ab,
als Project Pitchfork sie bisher produziert hatten. "Chakra: Red!" groovte, ließ
den Songs alle Zeit der Welt zur Entfaltung und hielt in bezug auf
Vielschichtigkeit und Doppelbödigkeit durchaus einem Vergleich mit dem ein Jahr
zuvor erschienenen finalen Skinny Puppy-Album "The Process" stand. Und auch ohne
den Weg ebnende Single durfte die Band mit "Chakra: Red!" erneut den
Chart-Einstieg feiern, der mit Platz 53 fast genauso erfolgreich wie bei "Alpha
Omega" ausfiel. Hätten wir es mit einer effektheischenden Kommerz-Kapelle zu
tun, wäre eine Singleauskopplung freilich unausweichlich gewesen: "I'll Find My
Way Home", die Coverversion des 80er-Jahre-Hits von Aphrodite's Child-Keyboarder
Vangelis Papathanassiou und Yes-Sänger Jon Anderson, landete jedoch bescheiden
am Ende des Albums und beschloß melancholisch eine Platte, die gleichzeitig
musikalischen Fortschritt und inhaltlichen Anspruch manifestierte.
Verkaufszahlen, die Vielzahl der Festivalauftritte und eine Deutschlandtour, die
alle vorherigen toppte, machten deutlich: Project Pitchfork wurden groß und
größer. Noch größer. Was eigentlich auf die Länge gesehen nur eine logische
Folge haben konnte. Doch daran wollte im Jahr 1997 anscheinend noch keiner
denken.
Spätfrühling/ Frühsommer 1998. Im Programm des gerade vom Adult-Education-Kanal
zur grungigen Alternativ-Klitsche morphenden Musiksenders Viva Zwei präsentiert
Programmdirektoren-Gattin Katja Giglinger gerade mal wieder einen unausgegorenen
Clipstrecken-Gemischtwarenladen, und es stellt sich folgende Frage: Als nächstes
Rolling Stones (ogottogott) oder vielleicht doch die Smashing Pumpkins (uiuiui)?
Aber weder das eine noch das andere tritt ein, denn urplötzlich fegen
überdurchschnittlich finster dreinblickende Gestalten mit stierem Blick,
Cowboyhut, gefährlichem Make-up und schwarzen Netzklamotten über die
Mattscheibe. Dazu knirschen die Body-Beats und furzen die Synthi-Bässe.
Schreckliche Was'n-das-Zehntelsekunden bis zur Einblendung der
Trackinformationen, dann sind wir schlauer: Project Pitchfork sind zurück und
peitschen sich als eine der ersten Electro-Bands überhaupt ihren Weg durchs
kommerzielle Musikfernsehen. Allen Ernstes. "Steelrose" heißt der
knochentrockene Kracher, den die Band als erstes Lebenszeichen nach für ihre
Verhältnisse langen anderthalb Jahren raushaut, und wird auch nach kommerziellen
Standards gemessen verdientermaßen so etwas wie ein Hit. Der Begeisterung aller,
die pünktlich zum Erscheinen der Maxi-CD die Plattenläden stürmen, folgt
zumindest bei einem Teil der Fangemeinde das Entsetzen über das, was sie da in
den Labelinformationen lesen müssen: Project Pitchfork haben bei der Industrie
unterschrieben und veröffentlichen ihre Platten nunmehr bei eastwest Records.
Eine fast überfällige Entwicklung angesichts des konstanten Erfolges der Band,
der das indie-orientierte Publikum allerdings mißtrauisch gegenübersteht. Von
Verrat und Ausverkauf ist schlimmstenfalls die Rede, wobei die meisten
übersehen, daß andere Stars der schwarzen Szene, wie Rammstein oder Lacrimosa,
sich längst der gleichen Vertriebswege bedienten, letztere sogar, ohne das
eigene Label aufzugeben.
Und auch das Candyland-Logo sollte sich weiterhin auf allen Project
Pitchfork-Platten befinden. Kein Grund also zur Beunruhigung, zumal "Steelrose"
trotz dicken Vertrages einer der härtesten Electro-Brocken Pitchforks seit
längerem war und die nachgeschobene zweite Vorabsingle "Carnival" sich nicht
wesentlich von ihrem Vorgänger unterschied. Das im Herbst folgende Album "Eon:Eon"
sollte dann dankenswerterweise auch keinerlei Zugeständnisse an die
Musikindustrie machen, sondern zeigte die Band im modernen, abgespeckten Gewand
- irgendwie dank der klaren, eingängigen Strukturen der Songs zwar im positiven
Sinne mehr Pop als je zuvor, jedoch kompromißlos straight und konsequent die
eigene Linie verfolgend. Das galt natürlich auch erneut für die inhaltliche
Seite: "Eon:Eon" erzählt die Geschichte der Menschheit in einer möglicherweise
nicht mehr allzu fernen Zukunft, in der die Maschine den Menschen regiert und
nicht mehr umgekehrt. Sicher nicht die neuartigste der bisher in der Musik
vertretenen Negativutopien, aber immerhin eine, die musikalisch und inhaltlich
lange nicht mehr so vielschichtig umgesetzt wurde. Klar, daß durch die
verstärkte Medienpräsenz, mit einer großen Firma im Rücken und abonnierten
Spitzenplätzen in Alternative-Charts und Videoclip-Hitlisten die Welt der Top 50
nicht mehr genug war: Von Null auf 14 schossen Project Pitchfork in die
LP-Charts und nur knapp vorbei an den Top Ten, was erneut Stoff für Kritiker
gab, die Verrat an der Szene witterten, zumal die Band mit Gitarrist Carsten
Klatte und Drummer Achim Färber als ständige Mitglieder mittlerweile zu einem
rockstarkompatiblen Quartett angewachsen war.
Ein Vorwurf, den Peter Spilles stets gelassen sah und eher lapidar kommentierte,
indem er zu bedenken gab, daß die Musik von Project Pitchfork auch schon vor dem
Labelwechsel in puncto Eingängigkeit und Melodiösität einen unbestreitbaren
Pop-Appeal besessen habe, der sich nicht an Begriffen wie Kommerz oder
Ausverkauf festmachen lasse. Und der Mann meint es ernst: Die dritte Single aus
"Eon:Eon", "I Live Your Dream", markierte den Höhepunkt der Eingängigkeit und
war ein bombastischer Pop-Song mit verträumter Piano-Hookline und voluminösem
Chor im Hintergrund - und mit Sicherheit einer der Höhepunkte des Albums. Ein
Stück, an dem sich aber gleichzeitig die Doppelbödigkeit der Inhalte Project
Pitchforks zeigt, denn auch wenn die musikalische Untermalung schmeichelt,
transportiert "I Live Your Dream" doch die eher düstere Vision vom Individuum,
das nur noch in fremden Träumen zu leben vermag statt in den eigenen (wie schon
Peter Heppner von Wolfsheim sanft einsäuselnd "Künstliche Welten" romantisierte,
in denen der Mensch sein Ich preisgibt, ohne überhaupt Notiz davon zu nehmen).
Sieg auf der ganzen Linie also: Project Pitchfork hatten ihren Stil spätestens
jetzt auf breiter Linie durchgeboxt, nichts an Glaubwürdigkeit verloren und neue
Fans gewonnen, die in Scharen auf die "Eon:Eon"-Konzerte im In- und Ausland
strömten, nachdem die Band bereits zuvor mit Front 242 die USA bereist hatte. Im
Schlepptau befanden sich diesmal Covenant, die es Project Pitchfork im übrigen
gleichtun und ihre nächste Platte bei einem Major veröffentlichen werden.
Ausverkauft waren hier nur die Hallen.
Knapp drei Jahre später sieht einiges anders aus, zumindest was Kommerz-Vorwürfe
an Bands des musikalischen Undergrounds betrifft. Apoptygma Berzerk, Mesh,
Theatre Of Tragedy und Unmengen anderer Independent-Gruppen haben einen
Major-Vertrag in der Tasche, sind deswegen keinen Deut schlechter geworden, und
Project Pitchfork waren mit ihrem achten regulären Album weit vor
Veröffentlichung ein heißer Kandidat für die Top Ten. So kam es dann auch:
Angeheizt von der spektakulären Single "Existence" und einem großkarierten
Video, dem die religiöse Symbolik aus allen Ritzen quoll, schaffte es "Daimonion"
auf Anhieb auf Platz 9 der Charts und markiert den bisherigen Höhepunkt im
Schaffen der Band, und das nicht nur wegen des kommerziellen Erfolges. Vielmehr
haben wir es hier mit der bisher ausgewogensten Platte zu tun, auf der
gleichzeitig aggressive Electro-Songs, Synthie-Pop-Ohrwürmer und
dunkel-melancholisches Material Platz finden. Einen Platz auf dem Cover von "Daimonion"
findet allerdings leider keiner der künstlerischen Vorschläge, die etliche Sonic
Seducer-Leser im Vorfeld auf Ausschreibung hin einreichten - Project Pitchfork
entschieden sich letztendlich doch für einen eigenen Entwurf, um das neue Album
zu verpacken, doch allein diese Aktion zeigt sowohl den Respekt, den die Band
ihren Fans entgegenbringt als auch den Enthusiasmus, mit dem "Daimonion"
erwartet wurde. Man darf wohl ‚Hit' dazu sagen. "Existence" landet indessen gar
auf einem Doppel-CD-Sampler zu "Fast Forward", der halbautomatischen
Personenschleuder of Mega-Pop mit Charlotte Roche auf Viva Zwei und macht sich
prächtig zwischen Geschrummel, Mod-Gitarren und HipHop. Mit "Timekiller" folgt
als zweite Auskopplung erneut einer der eingängigsten Songs der Platte, und
Peter Spilles ist sich der Ironie durchaus bewußt, als er, auf den Pop-Faktor
angesprochen, erwidert, so sei es halt mit Popsongs: Sie stehlen einem die Zeit.
Nicht so Project Pitchfork: Der Titel des Albums, den man sowohl als
‚Schutzgeist' als auch ‚Dämon' interpretieren kann, illustriert nicht nur die
Zweischneidigkeit der Platte, sondern auch den Werdegang der Band, die sich nie
festlegen ließ: Nicht auf plakative Düsternis, nicht auf vordergründigen
Optimismus, nicht auf Electronic Body Music, nicht auf Gothic oder sonst eine
Geisteshaltungs- oder Stilrichtungsschublade, in die sie mancher gerne gestopft
hätte. ‚Mach dein Ding, steh dazu, heul nicht rum, wenn andere lachen', forderte
Bela B. mal vor ein paar Jahren - und auch wenn er das nicht getan hätte,
Project Pitchfork hätten ihn womöglich darauf gebracht.